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Ulrich von Schroeder

​

Tibetische Messing-Traditionen

(Übersetzung aus dem Englischen: Sylvia Hobbs)

 

Das Ausmass der geographischen Ausbreitung Tibets begünstigte die Entwicklung verschiedener künstlerischer Traditionen. Diese wurden von unterschiedlichen Einflüssen von ausserhalb des Territoriums geprägt. Hinsichtlich der Metalllegierungen, die sich für den Guss von Statuen eigneten, gab es im Wesentlichen nur zwei Möglichkeiten: entweder die Verwendung von Kupfer oder von Messing, einer Legierung aus Kupfer und Zink. Die Wahl der Legierung hing vom Wunsch des Auftraggebers ab, ebenso wie die Entscheidung, ob die in Auftrag gegebene Statue vergoldet werden sollte oder nicht. Die Newar-Künstler aus Nepal bevorzugten vergoldetes Kupfer. Die vergoldeten tibetischen Statuen ähneln im Allgemeinen nepalesischer Kunst. Die Verwendung von Messinglegierungen für den Guss war eine Technik, die in Tibet von Künstlern aus Kaschmir (1-6) und aus Nordindien (7-9) eingeführt wurde.

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  Beim Studium tibetischer Messingstatuen wird deutlich, dass es verschiedene Traditionen gibt, die sich mehr oder weniger unabhängig voneinander entwickelt haben. Mit Ausnahme des Mönchsporträts spiegeln alle hier abgebildeten Messingstatuen in unterschiedlichem Masse stilistische Einflüsse von zwei bestimmten indischen Regionen wider, die Messinglegierungen zum Giessen ihrer Statuen verwendeten. Die Tradition des Giessens von Statuen aus Messinglegierungen gelangte aus zwei Richtungen nach Tibet, nämlich aus dem Grossraum Kaschmir im Nordwesten Indiens und aus den Herrschaftsgebieten der Pala-Herrscher von Bihar und Bengalen im Nordosten Indiens. Der Einfluss der Kunst Kaschmirs war besonders in den Königreichen West-Tibets spürbar, wo Künstler aus Kaschmir und Himachal Pradesh tätig waren. Der Einfluss der Pala-Traditionen hingegen wirkte sich vor allem auf die Entwicklung der künstlerischen Traditionen Zentral- und Süd-Tibets aus, wo auch der nepalesische Einfluss stark wahrnehmbar war.

    Die Entwicklung eines Stils ist ein allmählicher Prozess, der sich nicht rational erklären lässt. Er geschieht nicht durch Konventionen, sondern ist vielmehr der Spiegel eines allmählichen Bewusstseinswandels, der alle Aspekte menschlicher Aktivitäten und Erfahrungen einbezieht. Sowohl Auftraggeber als auch Künstler beteiligen sich an dem ständigen Streben nach ästhetischer Perfektion. Vier der abgebildeten Statuen zeigen die stilistische Entwicklung der tibetischen Skulpturen innerhalb eines Zeitraums von etwa zweihundert Jahren. Die beiden früheren Statuen von Akshobya und der Grünen Tara stammen etwa aus dem 12. Jahrhundert und bewahren eine gewisse archaische Einfachheit und Naivität (31-32). Die Statuen von Ratnasambhava und der zweiten Grünen Tara wurden etwa zweihundert Jahre später, im 14. Jahrhundert gegossen (33-34). Die beiden letztgenannten Statuen sind Ausdruck einer stilistischen Reife und einer weiterentwickelten technischen Fertigkeit.

    Die kontrastierenden Farben der verschiedenen Metalllegierungen können genutzt werden, um bestimmte Details der Statuen hervorzuheben. Die Tradition, insbesondere bei Messingstatuen, die Augen mit Silber oder den Mund mit Kupfer einzulegen, wurde von Indien aus nach Tibet eingeführt. Sie wurde früher in den Regionen Swat und Kaschmir im Nordwesten Indiens sowie im Nordosten Indiens praktiziert. Relativ weiche und formbare Metalle, wie Gold, Silber, Kupfer und Zinn, eignen sich besonders gut zu diesem Zweck. Die Tradition der Einlegearbeiten wurde später durch die Bemalung der Gesichter von Statuen mit "kaltem Gold" obsolet. Zwei der abgebildeten Statuen sind ausgezeichnete Beispiele dieser Einlegetechnik. Die eine stellt einen stehenden dreiköpfigen Avalokiteshvara aus dem 12. oder 13. Jahrhundert dar (35). Das andere portraitartige Bildnis repräsentiert Dolpopa Sherab Gyaltsen (1292-1361) mit individuellem Gesichtsausdruck (36). Diese Statue ist ein Beispiel für die Tradition des "nördlichen Stils" (Byang lugs) des westlichen Tsang in Süd-Tibet. Dieser Stil zeichnet sich durch einen starken Realismus aus und beinhaltet oft Ornamente in Reliefarbeit. Zwei ähnliche Statuen befinden sich in Obhut des Lhasa Jokhang/Tsuglagkang, und alle drei wurden wahrscheinlich mit Hilfe einer Matrix modelliert, wobei die Details nachträglich einzeln ausgearbeitet wurden.

 

 

31.  Akshobhya. Tibetische Messingtraditionen: 12. Jahrhundert.

       Messing; Hohlguss. Höhe: 25,3 cm

32.  Shyama-Tara. Tibetische Messingtraditionen: 12. Jahrhundert.

       Messing; mit Einlegearbeiten aus Silber und Kupfer. Höhe: 39 cm

33.  Ratnasambhava. Tibetische Messingtraditionen: 14. Jahrhundert.

       Messing; mit Einlegearbeiten aus Silber und Kupfer. Höhe: 42,3 cm

34.  Shyama-Tara. Tibetische Messingtraditionen: 14. Jahrhundert.

       Messing; mit Einlegearbeiten aus Silber und Kupfer. Höhe: 21,5 cm

35.  Avalokiteshvara. Tibetische Messingtraditionen: 12./13. Jahrhundert.

       Messing; mit Einlegearbeiten aus Silber und Kupfer. Höhe: 58,5 cm

33.  Dolpopa Sherab Gyaltsen (1292-1361). Tibet: um 1400.

       Messing; mit Einlegearbeiten aus Silber und Kupfer. Höhe: 16,3 cm

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